Ein Wunder?
Immer wenn es weiss vom Himmel herabflockt, werde ich lebhaft an vergangene Tage in Russlands Steppen erinnert und eine Begebenheit steht jedesmal wie handgreiflich vor mir.
Nicht alle Winter dort drüben sind gleich streng und hart. Zuweilen können sie recht mild sein, zuweilen aber so grimmig und schneidend, dass einem der Atem schier ausgeht.
Wenn der Sturm über die Ebene dahinrast, begleitet von eisiger Kälte und den Schnee in weissen und doch dunklen Wolken vor sich hertreibt. Dann ist’s schauerlich in der Steppe! Wer unterwegs ist, dem stehe Gott bei!
So war es auch vor 24 Jahren. Ich verbrachte als lebensfroher, übermütiger 17jähriger Seminarist meine Weihnachtsferien daheim im Elternhause. Da höhere Schulen verhältnismässig nur spärlich vorhanden waren, musste das Studentenvolk jeweils früh schon in die Welt hinaus und fern von zuhause Weisheit schöpfen. Selbstverständlich zog’s einen dann auf die Ferien mit allen Fasern wieder zurück zu seinen Lieben. Von allen Richtungen her strömte jeweils auf den Bahnen das Jungvolk zusammen und «Herren» wie «Fräulein» im Flegel- und Backfischalter wetteiferten auf der Fahrt einander zu gefallen! So war’s wenn man heim fuhr und so war’s wenn man wieder zurück zum Studium fuhr. Wer etwas auf sich hielt, verwendete Sorgfalt auf sein Äusseres. Kein Wunder gab’s bei meiner Rückreise eine harte Auseinandersetzung zwischen meines Vater’s praktischem Sinn und meiner Eitelkeit. Es war am 7. Januar 1907. Das Datum bleibt mir in Erinnerung. Da ein leichtes Schneetreiben einsetzte, riet und drängte mein Vater, dass ich mich mit warmen Kleidern versehe und sowohl seinen Schafspelz, als auch seine groben, dicken Filzstiefel anlege. Mir war das gegen allen Geschmack und Schick. So gab ich denn nicht nach und setzte meinen Kopf durch! Allein, wer nicht hören will muss fühlen! Die Strafe blieb nicht aus.
Abends 5 Uhr, brachte mich mein Zug mit drei Stunden Verspätung auf die Station B. Von dort waren noch 15 Kilometer per Wagen zu machen. Am Bahnhof ein Durcheinander. Bei dem fürchterlichen Schneesturm der nun tobte und den 20 Grad minus, wagte kein Mensch sich in die Steppe hinaus und die Menschen stiessen und drängten sich in den Räumlichkeiten.
Die Jugend kennt keine Gefahren! Unser vier taten wir uns zusammen und mieteten einen halb betrunkenen Fuhrmann zur Weiterreise. Wäre der Mann nüchtern gewesen, würde er das Risiko nicht übernommen haben!
Ein ältere, russische Frau, gesellte sich uns bei und so fuhren wir denn waghalsig hinaus ins Dunkel, uns darauf verlassend, dass ja dem Feldwege nach eine Telegraphenleitung führe, die uns ein guter Wegweiser sei. Etwa zwanzig Minuten ging auch wirklich alles gut, dann aber war’s fertig! Der Sturm heulte wie wahnsinnig und hüllte alles in dunkle Nacht. Wir kamen von der richtigen Strasse ab und fanden uns nicht mehr zurecht. Die drei Pferde vor dem Wagen hatten in dem tiefen Schnee immer grössere Mühe vorwärts zu kommen, bis sie auf einmal ganz stehen blieben. Was nun?
Zunächst freuten wir uns noch des Abenteuers, allein, bald sollte die Kälte uns unruhig machen. Zum Glück hatte unser Wagen ein Verdeck, sonst wäre es ganz aus gewesen mit uns!
Die Stunden schlichen entsetzlich langsam dahin! Allein die Nacht, sie wollte kein Ende mehr nehmen. Bald waren wir so durchfroren, dass sich keiner mehr rühren und nach der Uhr sehen mochte. Die Situation wurde immer unheimlicher.
Da in jener Gegend bei heftigen Schneestürmen in allen Ortschaften die Kirchenglocken geläutet werden, zur Orientierung für allfällig draussen im Unwetter herumirrende Wanderer, schärften wir unsere Sinne aufs Äusserste und horchten sehnsuchtsvoll hinaus in die Nacht, ob nicht durch des Sturmes Geheul hindurch rettende Klänge an unser Ohr tönten. Doch nichts war zu vernehmen. Wir vertrösteten uns in unseren Qualen auf den Morgen. Er kam, brachte aber wenig Hoffnung! Das Schneetreiben ging weiter und die Kälte blieb die gleiche.
Unsere Rösslein steckten trübselig die Köpfe zusammen, als wollten sie einander trösten. Ein Häufchen Elend sassen wir in unserem Wagen und rieben die Hände und schlugen die Arme. Die Füsse brannten wie im Feuer und wie mit tausend Nadeln stach’s in allen Zehenspitzen. Aussicht auf Rettung war keine. Einmal ums andere strengten wir unser Kehlen an und riefen aus Leibeskräften um Hilfe. Als alles vergebens war, berieten wir hin und her, ob nicht zu Pferd ein Entkommen aus dem eisigen Grabe möglich wäre. Nach gründlicher Überlegung stunden wir davon ab, im Bewusstsein, dass hoch zu Ross wir der Kälte erst recht ausgesetzt und damit dem Erfrieren unfehlbar preisgegeben wären.
In der Verzweiflung nahmen wir unsere Zuflucht zum Gebet und es kam aus der Tiefe der Seele. Schwerlich hatte einer von uns bis dahin je in seinem Leben so mit Gott gerungen. Allein, eine Änderung in unserer Situation trat nicht ein! Die Zeit wurde uns zur Ewigkeit. Schon machten sich die ersten Anzeichen des herannahenden Abends bemerkbar und bald war’s wieder Nacht. Also keine Hilfe, keine Rettung. Wir sahen dem Tod in die Augen und beschlossen, uns ihm auszuliefern. Herzinnig stieg nochmals ein gemeinsames Gebet zum Himmel empor, dann kauerten wir uns zusammen und schlossen die Augen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen!
Hatten wir uns bis dahin bewusst gegen jeden Schlaf gewehrt, nun wollten wir ihn über uns kommen lassen! Bald war ich auch wirklich hinübergeschlummert ins Land der Träume.
Da geschah etwas Eigenartiges! Zwei Seelen kämpften im Traume in mir: Auf der einen Seite war mir unsäglich wohl, auf der anderen Seite aber litt ich ebenso unsäglich Qualen, dass nun unser junges Leben so gewaltsam gebrochen werden sollte. Es war mir umso schwerer, als ich unmittelbar vor unserem Wagen einen Graben sah und jenseits desselben eine saubere Ortschaft mit einem Wäldchen davor. Es galt nur, den Graben zu überwinden und sichere Rettung stand in Aussicht. Aber oh weh! Unser Gespann konnte den Sprung nicht tun. So nahe bei Menschen und doch jämmerlich erfrieren zu müssen; dieses Bewusstsein drückte mir im Traum schier das Herz ab. Noch steht alles so lebhaft, wie eben geschehen, vor meinem Auge!
Unterdessen war es meinem Cousin neben mir unheimlich geworden, als er mich bereits schlafen hörte. Zudem hatte der Sturm in seinem Toben etwas nachgelassen, sodass wie in nebelhafter Ferne irgendwelche dunkle Umrisse hervorzutreten begannen. Mein Cousin, in einer Aufregung, packte mich kurz entschlossen bei der Schulter und schüttelte mich, bis ich wieder zu mir kam. Er wies mich auf die dunklen Schatten in der Ferne und fragte, was das bedeuten könnte, ob’s Wirklichkeit oder Sinnestäuschung sei. In mir jubelte etwas auf: Mein Traum!
Rasch wurden alle geweckt. Der Fuhrmann schlief bereits so fest, dass wir ihn mit dem Peitschenstock ganz unsanft berühren mussten, bis er den Weg wieder zurück ins Bewusstsein fand. Ganz verträumt fragte er, wo der alte Mann sei, der soeben mit ihm gesprochen habe. Völlig klar geworden, teilte er dann mit, ein alter Mann habe neben im gestanden und ihn aufgemuntert, doch ja nicht mehr länger im Wagen, dem sicheren Grabe, zu bleiben, sondern den Weg unter die Füsse zu nehmen, da Rettung möglich sei. Es gelte ja nur, den Graben vorn zu überschreiten und das dahinter liegende Wäldchen zu überqueren, um zu Menschen zu gelangen.
Uns allen wurde klar, dass diesmal offenbar Träume nicht Schäume bedeuteten. Voll innerer Spannung beschlossen wir, den Wagen zu verlassen und unser Heil in der Richtung der dunklen Schatten, die unterdessen wieder verschwunden waren, zu suchen. Jetzt stellte sich aber heraus, dass drei von uns bereits nicht mehr gehen konnten. Wir drei anderen nahmen Abschied von ihnen mit dem Versprechen, für ihre Rettung unbedingt zu sorgen, falls wir selber mit dem Leben davonkämen. Käme keine Hilfe, so wüssten sie um unser Schicksal.
Etwa zwanzig Minuten mag uns der Wind vorwärts getrieben haben in dem tiefen Schnee. Auf einmal versanken meine beiden Gefährten bis an die Brust. Mit Mühe arbeiteten sie sich wieder heraus aus der Schneemasse. Da, die Überraschung! Bäume direkt vor uns. Schlotternd standen wir da und versuchten uns zu orientieren. O Freude, rötlich schimmerte uns ein Lichtlein entgegen!
Wir gingen darauf zu und kamen an das erste Haus eines Dorfes. Die Bewohner gingen gerade zu Bett, wie durchs Fenster zu sehen war. So klopften wir dann beim Nachbarn an, der auch noch Licht hatte. Ängstlich öffnete er zusammen mit seinem Knecht, wohlversehen mit Beil und Axt, die Haustür. Mit einigen Worten war unsere verzweifelte Lage geschildert. Meine Gefährten konnten bereits kaum mehr reden. Also schnell mit ihnen ins Zimmer! Die Bäuerin holte Schnee und dann wurden den halb Erfrorenen wieder Lebensgeister in den Leib gerieben.
Im Dorfe wurden Schlitten aufgeboten und eine Schar Männer mit Fackeln draussen vor der Ortschaft aufgestellt. Mich hüllte man in schwere Pelze und nahm mich als Führer mit. Am Winde orientiert, fuhren wir hinaus ins Feld, die anderen suchen. Sie waren bald gefunden, in Schlitten gebettet und ins Dorf geführt. Dort wurden auch ihnen die Lebensgeister durch Schneereiben wieder geweckt. Dann gab’s heissen Tee. Und ins Bett. Es war nachts 11 Uhr.
Dreissig Stunden hatten wir draussen im Sturm gesessen und mit dem Tode gerungen. Anderen Tags schaute ich mir die Ortschaft an. Es stimmte, wie uns geträumt hatte: Der Graben, das Wäldchen und dahinter das Dorf. Und das Merkwürdigste dabei ist, dass ich die Ortschaft vorher in meinem Leben noch nie gesehen hatte. Der Traum war unsere Rettung.
Die Russenfrau meinte nachher zu mir: «Unter euch muss wohl ein Gotteskind sein. Wenn’s auf mich angekommen wäre, so hätten wir sicherlich erfrieren müssen!»
Die Gute, wir jungen Flegel und Gotteskinder!
Und die Erklärung des Erlebnisses? Ach, ich weiss auch, wie die Sache etwa psychologisch oder parapsychologisch zu erklären wäre! Es ist mir das Wunder aber damit noch nicht erklärt. Es gibt immer wieder Dinge in unserem Leben, da man sich fragen muss: Haben wir sie wirklich erklärt, wann wir sie «erklärt» haben?! Bei Gott geht vieles ganz natürlich zu und es ist halt doch übernatürlich! Die letzten Hintergründe bleiben für uns Hintergründe. Da vergeht einem das «Erklären», da beugt man sich in Ehrfurcht.
Gustav Breit, Lichtensteig (1890 – 1962)
1931 hat er sein Jugenderlebnis für die reformierte Kirchgemeinde in Lichtensteig (Toggenburg SG) zu Papier gebracht, wo er von 1925 – 34 als Pfarrer tätig war, bevor er nahtlos anschliessend, bis zur Pensionierung 1957, im alten Kirchlein Witikon predigte. Der höchstgelegenen Kirche der Stadt Zürich. Im Jahr seines Stellenantritts, wurde das ehemalige Bauerndorf eingemeindet.
Der Ort des Geschehens liegt in der Ukraine, südwestlich von Melitopol, auf dem Weg zur Krim. Aktuell ist dieses Gebiet leider von russischen Truppen okupiert. Hier wuchs Gustav Breit in Kaiserthal, einer der vielen Gemeinden der so genannten «Schwarzmeerdeutschen» auf, welche Zarin Katharina die Grosse ins Land gelockt hatte. Der Deal: Kostenloses Land gegen Urbarmachung. Das taten diese Bauersleute aus deutschen Landen über die Jahrzehnte auch sehr erfolgreich. Seinen weiteren Lebenslauf lassen wir ihn am besten selbst erzählen:
«Ursprünglich Volksschullehrer, kam ich 1910 in die Schweiz, um mich hier für den seelsorgerlichen Beruf auszubilden. Zu diesem Zwecke trat ich in Basel in die Evangelische Predigerschule ein und studierte dort bis zu Kriegsausbruch. 1914 fuhr ich für die Grossen Ferien in die Heimat. Dort überraschte mich der Krieg und hielt mich im russischen Heere fest (Anm. 1914 – 18 Soldat an der Kaukasusfront: Russland / Osmanisches Reich). Bei Ausbruch der Bolschewikiwirtschaft, die eine allgemeine Zersetzung ins Militär brachte, kehrte ich von der Front, aus Armenien, nach Hause zurück und verblieb dort noch drei Monate. Als aber das Chaos auch dort einsetzte, entschloss ich mich zur Flucht. Am 4. März 1918 verliess ich meine Angehörigen, um mich nach dem Auslande hindurchzuschlagen. Mein Ziel war die Schweiz. Nach vielen Strapazen erreichte ich im Herbst 1918 via Deutschland Basel. Ich konnte nun mit dem Wintersemester mein Studium wieder aufnehmen und es zu Ende führen.»
In Basel lernte er Léonie Kössler kennen. Eine Sekretärin mit Elsässer Wurzeln. Seine eigene Familie hat Gustav Breit lebtags nie mehr sehen, geschweige denn besuchen können. Sie wurde unter Stalins Terrorregime in der Ukraine nach Karaganda (Kasachstan) in ein Arbeitslager verbannt.
1922 erhielt er das Bürgerrecht von Stein im Toggenburg (SG), möglicherweise als Folge seiner Tätigkeit als Strafanstalts-Pfarrer in St. Gallen (1921 – 25) und dortigen Eheschliessung. Der Ehe entsprossen fünf Kinder.
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